Der Umgang mit den Verstorbenen
Immer wieder erlebe ich, wie schwer es Menschen fällt, einem Verstorbenen noch einmal zu begegnen. Sie zögern, schauen weg, flüstern: „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“ Und ich verstehe das. Auch ich habe einmal so empfunden.
Der Umgang mit dem Tod und den Verstorbenen machen uns unsicher. Der Körper wirkt fremd, die Stille ist bedrückend – und plötzlich scheint nichts mehr vertraut. Viele fremdeln mit dem, was früher so selbstverständlich war: dem Gesicht, den Händen, der Nähe.
Aber genau in diesen Momenten wünsche ich mir oft, dass Menschen sich trauen hinzusehen. Nicht, weil es leicht ist – sondern weil es echt ist. Weil es hilft, zu begreifen, dass dieser Mensch wirklich gegangen ist. Und weil es eine stille Form von Liebe ist, dazubleiben, wenn alles andere endet.
Ich habe gelernt: Es braucht keinen Mut, den Umgang mit den Verstorbenen zu lernen. Nur ein bisschen Offenheit, dem Tod menschlich zu begegnen und nicht davonzulaufen.
Der Anblick von dem Toten macht Angst

Die Verstorbenen annehmen
Was ich aber immer wieder erlebe ist, dass die Menschen Angst von Ihren Toten haben. Ich würde sogar sagen, das trifft auf 99 % der Hinterbliebenen zu, mit denen ich gearbeitet habe. Sie haben Angst, die Verstorbenen zu sehen oder gar anzufassen. Obwohl sie sich im Leben sehr nah standen, mutieren ihre Liebsten, als Tote, zu Fremden. Mit dem Anblick eines Toten verhält es sich ein bisschen wie mit einer ansteckenden Krankheit: um sich zu schützen, denkt man gleich unwillkürlich an Abstand nehmen. Nur dass Tote, in ihrer ruhigen Stille, total harmlos sind.
Auch ich hatte, als ich privat zum ersten Mal mit dem Tod einen geliebten Menschen konfrontiert war, Angst von „dem Toten“. Ich habe allerdings Glück im Unglück gehabt.
Das Glück einen passenden Bestatter gefunden zu haben
Meine Toten
Der damalige Bestatter führte mich durch die gewaltigen Wellen des Unverständlichen, des Inakzeptablen, was der Tod für mich damals war, mit der Ruhe eines geübten alten Matrosen. Einem, der sich mit allen Ecken des Meeres und den Richtungen der Winde auskennt. Er spürte immer, wann der Moment gekommen war – so auch, als der letzte Atemzug meines Mannes den Raum erfüllte und es Zeit war, die Segel zu setzen. Er sah mich nicht als Kundin, sondern als Mensch, erkannte meinen Schmerz und verstand meine Angst. Mit stiller Präsenz zeigte er mir den Tod als etwas Natürliches, sogar Sinnliches. Ich lernte durch ihn, mit dem Toten gemeinsam zu gehen. Ich lernte, das Sterben und Tot-Sein als einen Prozess zu erfahren, in dem Zeit und Raum keine Umgrenzung haben. Bis heute bin ich dem Zufall, der uns damals zusammengebracht hat, dankbar.

Für mich ist das Tot-Sein heute mehr als nur ein Zustand. Es ist eine Art stille Präsenz – manchmal sogar eine würdevolle Haltung. Der Tod nimmt Raum ein, ohne laut zu sein. Er fordert Respekt, aber keine Angst.
Ich glaube, der Umgang mit Verstorbenen will nicht einfach nur „bewältigt“ werden – er will gelernt, gespürt, verstanden werden. Nicht mit Distanz, sondern mit Achtsamkeit. Denn auch im Tod bleibt etwas sehr Menschliches zurück.
Ein letztes Wiedersehen mit unseren Verstorbenen
Anfängliche Abwehr
Des Öfteren stoße ich als Bestatterin auf eine große Abwehr der Angehörigen gegenüber meinem Vorschlag, die verstorbene Person noch ein letztes Mal zu sehen, bevor sie für immer „weg ist“. Ich sehe sofort in Ihren Augen, wie eine Horror-Bild-Sequenz ihren Lauf nimmt. Wenn das „Nein, wir wollen es nicht!“ kategorisch bleibt, tut es mir für die Toten immer wieder unheimlich leid, dass sie von Ihren Angehörigen mit einer Unbekannten (mir) alleine gelassen werden. Die Hinterbliebenen haben Angst von Ihren Toten, ohne sich wirklich zu fragen, warum es so ist. Ich muss gestehen: Wenn ich das erste Treffen mit einem Toten habe und das erste Mal vor ihm stehe, fremdele auch ich ein bisschen. Nicht aus Angst, sondern aus Scham. Ähnlich dem Gefühl, das man bei einem ersten Date hat. Warum das so ist? Das kann ich nicht sagen, nur dass in dieser Situation das Schamgefühl schneller vergeht als bei einem Date. Nach circa eine Minute entspanne ich mich, und der Tote und ich sind schon per „du“, best friends.

Aus meiner Perspektive strahlen die Toten etwas Anmutiges aus. Während ich sie wasche und anziehe, spreche ich gerne mit ihnen. Ich nenne diese Unterhaltungen „Einbahn-Gespräche“. Ich bilde mir ein, dass sie es mögen, und dankbar sind, dass ich mit ihnen spreche und keine Angst vor ihnen habe. Tot sein kann sehr einsam machen. Ich bin für sie eine Art „letzter Podcast“.
Unsere Toten nicht alleine lassen

Ein sicherer Raum für einen guten Abschied
Wenn ein geliebter Mensch stirbt, bleibt die Welt für einen Moment stehen. Alles, was vorher selbstverständlich war, verliert plötzlich an Bedeutung. Inmitten dieses Schmerzes braucht es einen geschützten Raum – einen Ort, an dem Abschied möglich wird, ohne zu erklären, zu funktionieren oder stark zu sein.
Der Tod gehört zum Leben. Auch wenn er uns aus der Bahn wirft, rüttelt er uns gleichzeitig wach: für das, was wirklich zählt. Einen Raum zu schaffen, in dem Trauer gelebt und geteilt werden darf, ist ein stilles Geschenk – an die Verstorbenen, aber auch an die Hinterbliebenen.
Ein liebevoller Abschied macht den Tod nicht weniger schmerzhaft. Aber er gibt ihm einen Platz. Und manchmal reicht genau das, um mitten im Verlust wieder ein wenig Halt zu finden.
„Der Tod ist doch nicht ansteckend – wovor haben sie Angst?“
Diesen Satz sagte mein Mann, als er selbst im Sterben lag – ruhig, fast schon tröstend, während andere begannen, auf Abstand zu gehen. Er verstand nicht, warum Menschen sich abwenden, wenn das Leben zu Ende geht. „Ich sollte doch Angst haben – nicht sie“, sagte er etwas entmutigt.
Ich denke oft an diesen Moment zurück, vor allem in meinem Beruf als Bestatterin. Es mag für manche seltsam klingen, aber mir tun die Toten leid, wenn sie plötzlich niemand mehr sehen will. Wenn sie im Sterben allein bleiben, weil ihre Umgebung nicht weiß, wie sie mit dem Tod umgehen soll. Dabei ist es genau dann, wenn das Leben still wird, dass Nähe am meisten gebraucht wird.
Ein Abschied ist keine Pflicht, sondern ein Akt der Liebe. Ein Zeichen dafür, dass jemand nicht vergessen, nicht übersehen, nicht allein ist – selbst am Ende. Und vielleicht auch ein kleines Stück Mut für uns Lebende, dem Tod nicht auszuweichen, sondern ihm menschlich zu begegnen
